Usbekistan: Partys und Powder im MI-8-Transporthubschrauber

Usbekistan: Partys und Powder im

MI-8-Transporthubschrauber

Zusammen mit einem Völker-Mischmasch aus über 300 russisch, islamisch, asiatisch und turkmenisch anmutenden Gesichtern sitzen wir im gewaltigen Bauch einer betagten Iljuschin II-96 und donnern nach einer Zwischenlandung in Moskau mit 870 Stundenkilometern und dem Schub von vier Triebwerken Richtung Zentralasien ins Tien-Shan-Gebirge. Zielflughafen ist Taschkent, die Hauptstadt der ehemaligen und 1991 unabhängig gewordenen sowjetischen Teilrepublik Usbekistan.

„Keine Spinnerei: Skifahren an der Seidenstraße“

Fast so viele Dienstjahre wie deren seit 1991 amtierender und mitnichten demokratisch gewählter Präsidial-Diktator hat unser Sowjet-Großraumjet auf dem Buckel. Man sieht es ihm an. Mal springen die Gepäckfächer wie von Geisterhand auf, mal wabert weißer Nebel aus der Klimaanlage, ständig ertönen irgendwelche Signallaute und die Rücklehnfunktion an unseren Sitzen ist selbstverständlich defekt. Sechs dieser fliegenden Mutterschiffe sind bei der russischen Aeroflot im Einsatz. Jene ist zwar Stammkunde für alle Iljuschin-Typen, weigert sich aber seit Jahren standhaft, weitere sechs bestellte dieser Oldtimer-96er abzunehmen. Trotzdem, es gibt keinen Grund für Iljuschin-Bashing oder Aeroflot-Spott. Das dicke Ding fliegt stabil wie ein Albatros und hat einen Innenraum wie der Kuppelsaal der Wiener Philharmoniker. Zudem  belastete das schön simple Internet-Buchungssystem der Aeroflot unser Kreditkarten-Konto für den Hin- und Rückflug von Düsseldorf nach Taschkent inklusive extrem übergewichtigem Skigepäck gerade mal mit schlappen 450 Euro.

„Die wahre Schönheit steckt immer im Inneren“, orakelt Akki vielsagend. Schnell wird mir klar, was er damit meint. So eine Iljuschin mag zwar klapprig sein und mit ihrem abgeranzten Plaste-und-Elaste-Interieur, den rissigen Sitzen und der nikotinfarbenen Innenbeleuchtung höchstens den technologischen Charme der 80er ausströmen, aber umso charmanter ist die Riege der Damen in dunkelblauen Uniformem, die in kurzen Röckchen, mit kessen Käppis, perfektem Make-up und einem gebleachten Zahnpasta-Lächeln zwischen den drei Sitzreihen der üppig gefüllten Sowjetmaschine umherschwirren. Die emsigen Bienen sind Stewardessen wie aus dem Katalog. Gertenschlank, mit makellosen Zügen, Haaren bis zum Hintern und Fahrgestellen, die an die spinnenbeinige russische Mondlandefähre LUNA-9 erinnern. Meine Gedanken kreisen zwischen Blitzhochzeit im Küchenmodul, Knutschen auf dem Klo-Trakt oder der Spontangründung einer Ost-Model-Agentur hier oben über den Wolken.

„Ewig lockt das Slawen-Weib“

Von einem Luftloch und einem feuchten Gefühl an meinen Oberschenkeln werde ich unsanft aus meinen Träumen gerissen. Der auf dem Ausklapptablett vor mir stehende O-Saft hat sich durch die turbulente Erschütterung auf meiner Jeans ergossen. Aber die blonde Svetlana steht schon eilfertig in ihrem eleganten Kostümchen vor mir und legt Hand an. „Vorsicht, nur tupfen, nicht reiben!“, denke ich. Sie lächelt. Ich versuche von ihrem doppelt konzentrierten Duty-Free-Chanel-No.5 nicht ohnmächtig zu werden und denke mir: „Ewig lockt das Slawen-Weib“. Langsam kann ich nachvollziehen, warum die vielen kleinen adipösen Liebesritter aus dem deutschen Unterschichtenfernsehen den Weg in den weiten Osten suchen, um ihre ganz persönliche Svetlana, Ksenia, Olga oder Katinka aus der Taiga oder den Betonbunker-Schluchten Moskaus in ihre deutsche Doppelhaushälfte oder das Hartz-IV-Wohnzimmer zu entführen.

Aber nicht mit uns! Wir drei West-Touris schaffen es tatsächlich den russischen Saftschubsen-Schönheiten konsequent zu widerstehen und lassen uns die Flocken lieber für den Powder aus der Tasche ziehen. Schließlich sind wir nach langer Planung fast am Ziel unserer Ski-Träume – dem gewaltigen, einsamen und über 4.000 Meter hohen usbekischen Teil des Tien-Shan-Gebirges. Zur unseligen Ankunftszeit um 02.30 Uhr in der Nacht landet die alte Tante Iljuschin mit den jungen Miles-and-More-Mannequins und uns mittelalten Freeride-Weltenbummlern dann endlich in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans.

Natürlich blicken wir den schönen Flugbegleiterinnen beim Abstieg von der Gangway aufs Rollfeld noch mal sehnsüchtig hinterher, aber unsere Gedanken sind jetzt allein auf die unglaublich lange Schlange am Zollschalter, die an Checkpoint-Charly erinnernden Einreiseformalitäten und die dahinter wartenden, tief verschneiten Gebirgszüge fokussiert, deren Hänge mit Sicherheit weitaus jungfräulicher sind als die aeroflotten Beautys bei ihrem Dienstantritt.

Mein Visum wird vom Zollbeamten in olivgrüner Uniform skeptisch akzeptiert, aber die in zweifacher Ausfertigung ausgefüllte Einfuhrerklärung versieht er mit allerlei Kritzeleien und Streichungen und macht mir im usbekischen Dalli-Dalli-Tonfall klar, dass ich das Ganze direkt noch mal neu ausfüllen kann. Die Verzögerung lässt sich verschmerzen, denn das Wichtigste rollt gerade vom Gepäckband – unsere Skibags und die Reisetaschen. Also nichts wie raus aus dem nächtlichen Gewusel des „Toshkent Xalqaro Aeroporti“. Umringt von Menschen im Wiedersehenstaumel, die alle braune Mäntel und die traditionelle russische Fellmütze „Schapka“ tragen, empfängt uns unser Reisebegleiter und Russland-Experte Mathias Andrä an der letzten Drahtzaun-Schleuse des Ostalgie-Flughafens. Hundemüde steigen wir in einen dort wartenden ISUZU-Kleinbus und wollen nach der langen Reise nur noch ins Hotel und in die Horizontale. Aber sechs Schweizer Mitreisende unserer Truppe hatten weniger Glück. Ihre Ski- und Board-Bags sind bei der Zwischenlandung am Moskauer Flughafen Scheremetjewo hängengeblieben. Gleich ganz hängengeblieben ist der US-Amerikaner Brent. Sein Flug von Idaho endete wegen Schneechaos schon am JFK-Airport in New York.

In einem mehrstöckigen Innenstadt-Hotel schlafen wir genüsslich unser Jet-Lag aus und gönnen uns am Mittag eine Stadtrundfahrt durch die fast drei Millionen Einwohner zählende Metropole, in der aufgrund von sowjetischen Umsiedlungsmaßnahmen ein wilder Völker-Mix von über 60 Nationalitäten miteinander verquirlt wurde. Mittlerweile zeichnet sich auch ein möglicher Anflug von US-Boarder Brent sowie des eidgenössischen Equipments ab. Nicht vor dem Morgengrauen des darauffolgenden Tages allerdings.

Die Sonne, die vom blauen asiatischen Himmel blitzt, die ungewöhnlich tiefen Temperaturen, die Schneefälle der vergangenen Tage und nicht zuletzt die sehnsüchtigen Blicke, die wir Richtung Berge werfen, führen wohl dazu, dass wir nicht länger in der Hauptstadt abhängen müssen, sondern als Vorhut ins Tien-Shan-Gebirge entsandt werden.

Das zentralasiatische Tian-Shan-Gebirge ist etwa 2.450 km lang, 400 km breit und bis zu 7.439 m hoch. Es erstreckt sich über das Staatsgebiet von China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan. Skifahren in diesen einsamen Weiten ist ein absolut exotischer Sport.

Bereits nach etwa zehnminütiger Fahrt durch die City geraten wir in eine Polizeisperre und müssen warten. Ein Konvoi passiert die abgeriegelte Straße vor uns. Oleg, unser Kleinbusfahrer, erklärt was los ist: „Unser Staatspräsident ist schon 86, fast drei Jahrzehnte im Amt und zwei Mal pro Tag, wenn er die halbe Stunde von seinem Wohnsitz zum Regierungspalast fährt, werden die kompletten Straßen auf seiner Stadt-Route gesperrt, damit er freie Fahrt hat“. Uns amüsiert nicht nur diese skurrile kleine Machtdemonstration einer Quasi-Diktatur, sondern auch die Tatsache, dass wir vom Präsidenten höchstpersönlich ausgebremst werden. „Gut, dass er seine Mittags- und Kaffeepause nicht zu Hause macht“, grummelt Akki im Hinblick auf die Mobilität der Bewohner Taschkents. Wir rollen weiter. Durch zerfallene russische Wohnblocks, chaotischen Verkehr, üppige Prachtbauten und quirlige Geschäftsviertel. Langsam dämmert uns, warum Taschkent wörtlich mit dem deutschen Begriff „Steinstadt“ übersetzt wird.

Endlich erreichen wir die schmuddelig-braunen Vororte, spüren die knietiefen Schlaglöcher in den Lendenwirbeln und wundern uns über in der Sonne glänzende Schweinehälften neben den Hauseingängen oder marodierende Hühnerbanden am Straßenrand. Schließlich rattern wir auf einer langgezogenen Betonpiste an schneebedeckten Feldern und am verfallenen Örtchen Olmaliq vorbei und sehen die weißglänzenden Ausläufer des Tien-Shan im goldenen Spätnachmittagslicht am Horizont glühen. Das Gebirge ist gewaltig groß und erstreckt sich über die Staatsgebiete von Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und China. Wir bekommen eine Vorahnung davon, warum Tien-Shan im Chinesischen „Himmlische Berge“ bedeutet.

„Mit dem Wodka läuft das hier wie mit der Bierversorgung in einer Kölsch-Kneipe.“

Unser Quartier ist ein Areal mit ziemlich in die Jahre gekommenen ehemaligen Parteibonzen-Hotels direkt am türkisfarbenen Akhangaran-Stausee. Mehrere von den pyramidenartig gebauten Betonblöcken stehen nebeneinander. In dem ganz links gibt’s sogar eine vom Klassenfeind importierte Bowlingbahn, im maroden und einsturzgefährdeten Exemplar ganz rechts wurde der Parterre-Bereich zu Ziegenställen umfunktioniert. Wir wohnen in der Mitte. Das Abendessen ist überraschend gut und ein Mix aus türkisch-arabischen und russischen Speisen. Für die üppige Fleischeinlage musste vermutlich ein Lamm von nebenan dran glauben. Pro vier Personen sind als Gratis-Tischgetränk zwei Flaschen Wodka im Preis inbegriffen. „Na sdorowje“ lassen wir den russischen Trinkspruch ein ums andere Mal erklingen. Mit dem Wodka läuft das hier wie mit der Bierversorgung in einer Kölsch-Kneipe durch den Köbes. Ist das Glas leer, wird sofort nachgeschenkt. Bis zum Abwinken. Kilian hat mir verraten, dass man vor dem Wodka-Trinken ausatmen soll, dann knallt das Zeug nicht direkt ins Hirn. Ich versuch’s, verschluck mich fürchterlich und bin nicht nur blau, sondern auch blau angelaufen. Aber der Nachschub rollt unaufhaltsam, denn eine Wodka-Flasche kostet hier gerade mal 3 Euro. Der Abend nimmt seinen Lauf.

Obwohl wir bunte Bommelmützen tragen, haben wir ’nen Helm auf, als wir am nächsten Morgen bei perfektem Bluebird-Wetter vor unserem riesigen Helikopter stehen. Wir, das ist eine bunt gemischte dreizehnköpfige Freeride-Kombo aus sechs Schweizern, fünf Deutschen und zwei US-Amerikanern, die sich durch den perfekt russisch sprechenden Cheforganisator Mathias Andrä im hintersten Winkel Asiens eingefunden hat. Vor zehn Jahren war Andrä zum ersten Mal hier, ab 2006 dann mit kleinen Gruppen. „Ich habe mal in Kühtai in Österreich jemanden getroffen, der für Warren Miller die Filmorganisation gemacht hat. Der hat mir erzählt, dass kurz hinter Taschkent auf 400 Meter der usbekische Tien-Shan anfängt und bis auf 4.600 Meter hochschießt. Zusammen mit ergiebigen Schneefällen im Januar und Februar ergeben sich dadurch die längsten Freeride-Lines auf diesem Planeten“, erzählt Mathias. Er muss es wissen, denn in Mission Powder war er schon viel unterwegs – vom heimischen Riesengebirge über Japan und den Kaukasus bis nach Alaska.

Auch wir können es kaum erwarten, die unglaublich langen Runs im himmlischen Gebirge unter die Planken zu nehmen. Das Transportvehikel dazu ist wahrlich einzigartig. Ein Omnibus der Lüfte für 16 Insassen, der in der Erstversion vom russischen Konstrukteur Michael Mil als Mehrzweckhubschrauber entwickelt wurde und 1967 in Serienproduktion ging. „MI 8 MTB“ – prangt auf der weiß-grün lackierten Aluminiumaußenhaut unseres im Jahre 1991 gebauten Modells. Das Zusatzkürzel „MTB“ erlaubt nicht die Mitnahme von Mountain Bikes, sondern steht für die spezielle Bergversion mit stärkeren Turbinen. 18 Meter lang ist das Baby, hat fünf Rotorblätter und eine Spannweite von 23 Metern. Im Cockpit sitzt ein Trio aus Pilot, Co-Pilot und Bordingenieur, die den Brummer theoretisch bis auf Gipfelhöhen von 7.200 Meter fliegen können.

Entschieden zu hoch und viel zu dünne Luft für uns Bleichgesichter. 4.000 Meter werden unsere magische Grenze sein. Während die Triebwerke zünden, ohrenbetäubender Lärm erklingt und aus dem Turbinenrohr ein beindicker Feuerstrahl züngelt, heben wir ab in usbekische Powderträume. Kaum vorstellbar, dass man in einem so riesigen Gebirge per Helikopter die einzige Crew ist, die hier per Ski oder Board unterwegs ist.

Weshalb das so ist, krächzt mir Mathias unter heulendem Lärm der Heli-Turbinen ins Ohr: „Es gibt nur zwei dieser Hubschrauber hier in Usbekistan. Mit dem einen fliegen wir gerade, der andere steht in Taschkent und könnte uns im Notfall helfen.“ Warum er im Konjunktiv spricht, darüber denke ich besser nicht nach. Ich genieße lieber den Blick aus dem Heli-Bullauge auf die unglaublich imposante Bergwelt. So fette und exotische Gipfel mit unzähligen tief verschneiten Ridges habe ich noch nie zuvor gesehen. Das Gebiet, durch das unser MI-8 gerade schwerfällig tuckert, ist so groß ist wie Tirol. Man kann vielen Runs sogar noch eigene Namen geben – sozusagen eine Wodka-Taufe nach Erstbefahrung. Die German-, Japanese- oder Slovenian-Towers gibt es bereits in der Nomenklatur, dann noch die Runs rund um den Triangolar, weil sie von oben fast wie ein

Obwohl das Tian-Shan-Gebirge auf demselben Breitengrad wie Neapel liegt, sorgt das kontinentale Klima Usbekistans für klirrende Winterkälte und extrem fluffigen Powder von Januar bis Ende März.

Mercedes-Stern aussehen, ebenso die Hänge des Kaptarkomirch, die im Glanz der Sonne an einen silbernen Vogel erinnern oder das riesige Areal des Padir – zu deutsch Onkel – das die längsten Runs mit über 2.000 Höhenmetern und bis zu zehn Kilometern Streckenlänge aufweist. Wir steuern zum Einstieg den Ichnatch an und landen auf knapp 3.800 Meter am Slovenian Tower. Im Schneekristall-Hagel und Lärm-Chaos schmeißt der Riesen-Heli uns im Schwebeflug raus, rauscht blitzschnell wieder ab und verschwindet hinter der nächsten Felswand. Dann herrscht absolute Stille. Tief beeindruckt blicken wir auf die atemberaubende Kulisse und die verschneiten Flanken und Bergketten, von denen wir zu allen Seiten umgeben sind.

Typisch für die Runs hier sind steile Gipfelhänge von etwa 500 bis 600 Höhenmetern und darauf folgende lange Cruising-Passagen mit über 1.000 Höhenmetern. Los geht es. Endlich tauchen wir in den Powder Asiens ein, filmen und fotografieren was die Kameras und Speicherkarten hergeben, sehen den dicken Truppentransporter dann irgendwann unten auf einem Schneefeld parken und lassen uns wieder zu neuen Zielen shutteln. Am dritten Gipfelplateau wuselten vor uns schon andere Tien-Shan-Bewohner herum. In alter Fährtensucher-Manier identifizieren wir die frischen Tatzenspuren von drei Schneeleoparden, die wir später aus dem Helikopter auch live zu Gesicht bekommen und bei ihrem Streifzug durch den Tiefschnee Tempo aufnehmen sehen.

Zehn fette Runs haben wir auf dem Tacho als wir gegen 15.30 Uhr den Abflug zu unserem Ausgangspunkt am Stausee antreten. Mit müden Beinen und von der südlichen Höhensonne geröteten Gesichtern schleppen wir uns in unsere Zimmer – natürlich nicht, ohne vorher noch einige Gläschen des hochprozentigen Nationalgetränks zu konsumieren. Jenes wartet auch beim Abendessen wieder auf uns.

„Mit Wodka bekommt man alles lecker“

denke ich mir und spüle die Rote-Beete-Suppe, den Dicke-Bohnen-Salat und Ziegen-Döner mit einem vollen Schnapsglas durch die Kehle. Gegen diesen Brandsatz hat keine Salmonelle auch nur den Hauch einer Chance. Als weitere Beilage zum Dinner erklingen mittlerweile dumpfe Techno-Beats der 90er im riesigen, aber menschenleeren Speiseraum des Ostalgie-Bunkers. Man könnte jetzt mal lässig die Hüften und das Tanzbein auf dem verfleckten Flokati-Teppich schwingen. Aber leider besteht die anwesende Community ausschließlich aus Männern. Null Chance die Puppen tanzen zu lassen. US-Gast Jeff analysiert die Situation goldrichtig: „Zu Hause bei uns in L.A. nennt man so etwas Sausage Festival.“

Bevor wir uns und unsere Würstchen hier zur Wurst machen, hat Akki einen anderen Vorschlag für ein Abendprogramm in gepflegter Herrenrunde: Ein hochdotiertes Poker-Turnier. Die Würze bekommt das Ganze nicht nur durch die flackernde Neon-Beleuchtung und das antiquierte Holzmobiliar, sondern vor allem durch die usbekische Währung namens SUM. Die gibt’s nur in Scheinen und deren kleinste Einheit sind Tausender. Drei dieser Tausender entsprechen gerade mal dem Betrag von 1 Euro. Die voranschreitende Dauerinflation im Land führt dazu, dass jeder Usbeke Geldwechsler ist – vom Zimmermädchen bis zum Helikopter-Piloten, alle gieren nach Dollars und Euros, die man als Altersvorsorge entweder in Goldzähne umwandelt oder unter dem Kopfkissen versteckt. Zückt ein Tourist beispielsweise eine 100-Euro-Note, kommt erst Glanz in die Augen des Einheimischen und dann eine riesige Plastiktasche zum Vorschein, aus der bündelweise Geldpakete gefischt werden, um die irrwitzige Monopoly-Summe von 300.000 SUM in dicken Batzen auf den Tisch zu blättern. Zählen kostet zu viel Zeit. Man vertraut einander. Und wenn mal ein Tausender fehlt, was soll’s? Sind ja nur Peanuts. Mit diesen Peanuts lässt sich allerdings gut pokern, schließlich hat man bei den Geldstapeln, die irgendwann auf dem Tisch liegen, das Gefühl, es geht um astronomische Einsätze.

Genau wie die usbekischen Powderhänge hat Akki auch das Pokerturnier und seine Gegenspieler fest im Griff. Dank ihm und seiner Gewinnsträhne bessert sich unsere Teamkasse um satte 400.000 SUM auf. Entnervt von Akkis Bluffs, seinen üppigen Gewinnen mit mittelmäßigen Blättern und entscheidenden Assen im richtigen Moment, streckt der Schweizer Benni als letzter die Flügel und resümiert trocken: „Der Akki hat so’ne große Schnauze, wenn der irgendwann mal stirbt, dann müssen sie seine Klappe separat totschlagen!“ Bluffen will eben gelernt sein.

Dieselben Schleierwolken, die sich am nächsten Morgen am Himmel zeigen, benebeln auch unsere Brummschädel. Aber der Heli startet trotzdem und im Laufe des Tages lichtet sich der Wodka-Dunst im Hirn und am Horizont. Die Lines heute sind wieder einfach ohne Worte und stehen dem ersten Tag in nichts nach. Bedenklich ist einzig, wie schnell man sich an den Luxus des Freeridens per Heli-Unterstützung gewöhnt. Kraxelt man in den Alpen als tagesfüllende Aufgabe einen Hang stundenlang hoch, um eine einzige Abfahrt auf dem Tiefschnee-Konto verbuchen zu können, geht das hier im Tien-Shan im 30-Minuten-Takt.

Per Hubschrauber schmilzen die Höhenmeter dahin, wie Pappschnee in der Frühlingssonne. Was hatten wir uns auch Gedanken gemacht, wie es möglich wäre, aus dem Heli zu filmen. Die Sache war schon nach fünf Minuten Flug geklärt, als der russische Bergführer Denis Grigorev sah, dass wir die Linsen unserer Kameras unbeholfen an die Heli-Bullaugen drückten. Mit den Worten: „Don’t you want to open the windows?“, legte er zwei Hebel oberhalb der runden Fenster um und klappte die Scheiben einfach lässig nach oben. Kamera raus, Kopf raus – im MI-8 alles kein Problem.

Skifahren in Usbekistan lebt natürlich auch vom Reiz des Reisens. Mittelasiens Exotik und Gastfreundschaft kombiniert mit der Multikulti-Menschenmixtur der alten Seidenstraße. Überall herrscht ein wildes Durcheinander und sympathisches Chaos, in dem man als Europäer nur fassungslos dasteht und sich wundert, wie in diesem Quasi-Entwicklungsland bei aller Einfachheit und Armut trotzdem alles funktioniert.

Einen Ausflug zum riesigen Basar in Taschkent machen wir bei Dauerregen. Das ist sehr gut, denn was hier als Wasser vom Himmel kommt, ist in den Bergen Schnee. Bei der Fahrt in die graue Stadt sehen wir nicht viel, denn die Scheiben des 18-sitzigen Kleinbusses sind komplett beschlagen – von innen und außen. Aber die Basar-Stände sind zumeist überdacht – mit alten Wellblechbahnen oder verspannten PVC-Folien. Offeriert werden Kleidungsstücke wie aus 1.001 Nacht, Fellmützen, Sultan-Gewänder und Hochzeitsroben, Schumacher-, Kesselflicker- und Friseurdienste, handgeknüpfte Teppiche, Elektronik-Zubehör aus dem Mobilfunk-Gründungszeitalter sowie gefakte Fußballtrikots von Real Madrid oder dem FC Barcelona.

Der Basar in der Hauptstadt Taschkent ist noch viel größer und bunter als in anderen Städten. Vom lebenden Huhn bis zur Waschschüssel voll Quark gibt es hier alles zu kaufen. Alle Nahrungsmittel sind frisch, Kaufhäuser oder Lebensmittelgeschäfte kennt man in Usbekistan nicht.

Es gibt Stände mit zu Pyramiden aufgehäuften und verführerisch duftenden Gewürzen, stapelweise Fladenbrot, Frauen, die Quark und Frischkäse in riesigen Plastik-Wäscheschüsseln feilbieten, Männer, die auf einem kleinen Tischchen blutrot leuchtende rohe Fleischstücke vom Rind präsentieren oder die allgegenwärtigen Garküchen mit ihren auf dem Grill dampfenden Schaschlik-Spießen und brutzelnden Suppen in verbeulten Töpfen. Wir gönnen uns diverse knoblauchschwangere Snacks, beschließen aber, den Abend in einem traditionellen Taschkenter Restaurant ausklingen zu lassen. Nicht nur die Speisekarte, sondern auch die angebotene Bauchtanz-Performance klingt verlockend. Auch wenn die Entfernungen in der usbekischen Millionenmetropole gewaltig sind, muss man nicht erst lange nach einem Taxi Ausschau halten. Einfach an den Straßenrand stellen, Hand raus und Sekunden später hält das erstbeste Privatauto an. Jeder Pkw hier in Taschkent ist ein potenzielles Taxi, in dem man für einen lächerlichen Mini-Betrag von A nach B durch die City fahren kann. Von dieser Transfer-Variante machen wir auch in den nächsten Tagen im Gebirge und mit vollem Ski-Equipment Gebrauch.

„Über Nacht gab es etwa 20 Zentimeter Neuschnee.“

Im tristen Bodennebel steht unser fliegender Truppentransporter in Planen gehüllt auf seinem Rollfeld und wird fürs Erste wohl nicht mehr in die Lüfte steigen. Aber wir haben eine Schlechtwetteralternative. Eigentlich kaum zu glauben in dieser Abgeschiedenheit, es gibt hier in den Westausläufern des Tian-Shan tatsächlich ein kleines Skigebiet, dessen zwei klapprige Lifte noch aus Sowjetzeiten stammen und spontan angeworfen werden, wenn sich Menschen dorthin verirren. Chimgan heißt dieser halb verfallene Ort mit seinen Hotel-Ruinen und verstreuten Ferienhäusern, der auf 1.600 Metern liegt und von dem gleichnamigen 3.309 Meter hohen Hausberg überragt wird.

Der Weg auf der holprigen und mit Schlaglöchern übersäten Gebirgsstraße dorthin dauert laut Aussage unseres Kleinbusfahrers Oleg etwa eine Stunde. Die Schneebedeckung der selbstverständlich ungeräumten Straße hat er nicht miteinkalkuliert. Schließlich präsentiert Oleg uns stolz die rostigen und mit Einmachgummis verspannten Ketten, die er gerade auf seinen ISUZU-Bus aufgezogen hat. Leider auf die Hinterreifen, aber die Kiste hat – wie sich wenig später herausschlittert – Vorderradantrieb. Egal, wir kommen eh nicht weit. Hinter der dritten Serpentine lauert eine Miliz-Einheit, fordert Papiere und lässt sich noch nicht mal mit einem SUM-Stapel oder anderem Bakschisch zu unserer Weiterreise überreden. Denn die Regierung in Taschkent kam vor zwei Wochen auf die Idee, zu bestimmen, dass, immer wenn es frisch geschneit hat, die Bergstraßen lawinengefährdet sind und Kleinbusse nicht fahren dürfen.

„Getankt wird aus der Fanta-Plastikflasche“

„Kleinbusse sind verboten, aber normale Autos dürfen fahren“, schmunzelt Mathias, nachdem er einige Zeit mit dem ranghöchsten Polizisten in russisch-usbekischem Kauderwelsch diskutiert hat. Für uns bedeutet das Umsteigen und Umladen. Als hätten sie es geahnt, haben sich inzwischen an der abgeschiedenen Weggabelung vier Fahrer von klapprigen und uns noch aus DDR-Zeiten vertrauten Ladas versammelt, die unsere Ski bei geöffneter Haube in den Kofferraum und uns auf die Rücksitzbank quetschen. Durch tiefe Spurrillen im Schnee quält sich der Rostlauben-Konvoi dann Richtung Chimgan. Ab und zu werden wir aufgehalten von Rindviechern, die einfach nicht einsehen, warum sie Automobilen Platz machen sollen. Die Tatsache, dass die Ski hinten quer aus dem Kofferraum ragen, vergisst unser usbekischer Chauffeur gern und touchiert ganz ungeniert manch mageren Ochsen unsanft am Hinterteil. Unproblematische Hilfe leisten wir danach noch einem wegen leerem Tank gestrandeten Lada, in dem ein anderer Teil der Reisegruppe gen Chimgan rattert. Unser Fahrer zieht einfach eine leere PET-Flasche unter dem Sitz hervor, saugt mit einem Gummischlauch Sprit aus dem Tank und gibt diese Diesel-Fanta dann an seinen Kollegen weiter.

Schließlich kommen wir an der Liftstation von Chimgan an. Statt als Mopedgang ist die Dorfjugend hier in Form von Reiterhorden unterwegs. Der klapprige und mit abblätternder, gelber Rostschutzfarbe lackierte Doppelsessellift läuft. Allerdings sind wir die einzigen Skifahrer weit und breit. Eine Oma mit mongolischen Gesichtszügen verkauft Strickmützen, eine andere hat einen Berg eines blassgrünen Krauts vor sich aufgetürmt, das aussieht wie ein Riesenhaufen Marihuana-Blüten. Die Auffahrt mit dem gerade einmal 350 Höhenmeter überwindenden Lift kostet umgerechnet 1,50 Euro und der Mann hinter der vergitterten Kasse erkundigt sich noch kurz, ob einer von uns Dreien Edward Snowden heißt.

Oben an der 1.975 Meter hohen Gipfelstation wird man vom freundlichen Liftboy mit Goldzahn-Grinsen, Spiegelbrille und Flecken-Tarnanzug empfangen. Über allem thront die gewaltige Szenerie des Peak Chimgan. Dort hochzuhiken würde uns beschwerliche sechs Stunden kosten. Da toben wir uns doch lieber auf den schönen Ridges aus, die nach fünfzehn Minuten Aufstieg zu erreichen sind. Freeride-Konkurrenz gibt es nicht. Man kann ganz entspannt seine Touren angehen und in frischem Powder zwischen vereinzelten Felsbrocken und verkrüppelten Sträuchern die Hänge hinuntersegeln. Inzwischen kämpft sich auch die Sonne durch das Wolkenmeer. Ab dem Mittag sind die letzten Wolkenfetzen weitgehend verschwunden und eröffnen den Blick auf die unglaublich weite Berglandschaft.

„Verliebte Paare und Wodka-trunkene Herrentrupps“

Auch bei den weiteren Auffahrten sind es keine Skifahrer, die mit uns die Doppelsessel nutzen, sondern verliebte Paare und Wodka-trunkene Herrentrupps. Erstere haben einen sichtbaren und schönen Brauch oben an der Gipfelstation etabliert: Der kleine Felsgrat, auf dem der Liftausstieg auf einer Holzplattform thront, ist weiträumig mit Stacheldraht eingefasst, damit die Ausflugstouristen nicht in die steilen Abbrüche purzeln. Als Glücksbringer haben die Usbeken Millionen von Taschentuch-Fetzen in diese fiesen Zäune geknüpft. So wandelt sich der Maschendraht zu griffigen Handläufen aus weichem Stoff. Eine sympathische Schwerter-zu-Pflugscharen-Variante auf Usbekisch.

Unten im herrlich maroden kleinen Ort raucht es an jeder Ecke. Lammfleisch-Spieße dampfen auf Holzkohle-Grills. Genauso wie an diesen Schaschliks, kann man auch an keinem Einheimischen vorbeigehen ohne in dessen Vorgarten eingeladen zu werden und an einer garantiert immer ausufernden Wodka-Degustation teilnehmen zu müssen. Niemand versteht ein Wort Englisch, man redet mit Händen und Füßen und trotzdem schüttelt man sich im Minutentakt vor Lachen. Das Ganze endet dann irgendwann unweigerlich im traditionellen Mützentausch.

Nur zwei Stunden Autofahrt vom Flughafen Taschkent entfernt liegt unser Domzil in den Bergen. Um von dort allerdings zu Skiabenteuern im Hochgebirge aufzubrechen fehlt – bis auf ein paar holprige Schlagloch-Straßen – fast jegliche Infrastruktur.

Der Gastgeber sucht sich ein Opfer aus, bietet noch einen weiteren Wodka als finalen Promille-Holzhammer an und zeigt dann auf die Kopfbedeckung des Auserwählten. Das kann teuer werden, wenn man wie Akki ein mit Strasssteinen besetztes, handgestricktes und mit Polarfuchsbommel verziertes Edel-Exemplar der Düsseldorfer Marke „delüxxmüzz“ aus feinster Merinowolle auf seiner Tonsur trägt. Denn der klassische Usbeke hat natürlich nur ein gefaktes Polyamid-Mützchen von Nike auf dem Schädel, das er für einen Witzpreis auf dem Basar erworben hat. Zu allem Überfluss und als Glücks-Omen wird vor dem Tausch auch noch kurz ins Mützeninnere gespuckt, bevor man sich umarmt, Brüderschaft trinkt und einen fetten Schmatzer auf die Wange gedrückt bekommt.

Für uns wird es Zeit „Dawai“ und „Daswidania“ zu sagen. Ersteres bedeutet nämlich im Russischen „Los, auf geht’s!“, letzteres heißt „Tschüss“ oder „Auf Wiedersehen!“ Die monströsen Freeride-Möglichkeiten, die einsamen Weiten und das pure Powder-Abenteuer im Tian-Shan-Gebirge werden uns noch lange in Erinnerung bleiben. Aber das, was neben den Berg- und Skibildern auch haften bleibt, ist das postkommunistische Chaos, die einfache Lebensweise der Menschen, die Exotik der Seidenstraße, der multikulturelle Völkerschmelztiegel Mittelasiens und die bewundernswerte tägliche Kunst der Improvisation, Zuversicht und Bescheidenheit, die alle Usbeken so gut beherrschen.

Jene Fähigkeiten haben wir ja leider in unserer überorganisierten, materiell orientierten westlichen Welt vielfach verloren. Genau wie die Gastfreundschaft und Freundlichkeit. Beides ist in Usbekistan – trotz aller Armut – absolut überwältigend. Gerade in den Bergdörfern kann man der Aufforderung zum Begrüßungsschnaps oder Picknick nirgendwo entgehen. Was nach dieser Reise immer wieder an unserem inneren Auge vorbeiziehen wird, sind also nicht nur die galaktischen Lines und verschneiten Flanken des Tian-Shan, sondern die Menschen!

Epilog:

Die Aeroflot-Stewardessen auf dem Rückflug waren übrigens eine einzige Enttäuschung. Wo waren sie hin, die magischen Moskauer Schönheiten vom Hinflug? Warum wurde so eine engelsgleiche Crew gegen übergewichtige Vorruheständlerinnen mit schlecht verspachtelten Falten und dünnem Haar ausgetauscht, die in ihren zerschlissenen Kostümchen aussahen wie Leberwürste in einer viel zu engen Pelle? Schuld sind Politik, Putin und die olympischen Winterspiele in Sotchi. Angeblich erging an die Aeroflot vom russischen Organisationskomitee die Anweisung, nicht nur ihre alten Iljuschin-Maschinen, sondern auch das weniger ansehnliche Kabinen-Personal ausschließlich auf den weit entfernten Teilstrecken einzusetzen, mit denen Westeuropäer und andere Olympia-Gäste niemals in Berührung kommen.

Schade, ich hatte wirklich überlegt, Svetlana auf dem Rückflug eine WhiteHearts-Visitenkarte unter den Rock zu schieben …

 

 

„Das Fortreisen ist eine gute Sache, wenn nur das Wiederkommen nicht wäre.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Text: Dirk Wagener

Fotos: Dirk Wagener

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