Bakhmaro/Georgien: Freeride-Eremiten beim Catskiing im Kaukasus
Auf 2.000 Meter Höhe mitten in den Bergketten des Kleinen Kaukasus thront das abgeschiedene Dorf Bakhmaro. Hohe Luftfeuchtigkeit und Tiefdruckgebiete vom nur 60 Kilometer Luftlinie entfernt liegenden Schwarzen Meer sorgen für viel Niederschlag. Aufgrund von Schneefällen ist Bakhmaro von November bis April komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Man erreicht es nur über eine quälend lange Passstraße, die im harten georgischen Winter tief verschneit und ungeräumt ist. Kaum ein Georgier hat das Dorf je in der kalten Jahreszeit gesehen. Wir haben dort für mehrere Wochen überwintert und unser Freeride-Nirwana gefunden.
EIN PISTENBULLY ALS AUFSTIEGSHILFE UND GEORGISCHE TREESKI-TRÄUME IM WEISSEN SCHNEE VOM SCHWARZEN MEER
„Wir Schnee-Junkies und Freeride-Enthusiasten sind auf unsere ganz spezielle Art Patienten. Aber unsere Heilverfahren bezahlt keine Krankenkasse – noch nicht mal die Private.“
Selbst Psychoanalyse-Koryphäen wie Sigmund Freud oder C. G. Jung würden bei dem Versuch, unsere Manie nach bodenlosem Powder zu kurieren, die Therapieansätze ausgehen. Und nun sollte ich Suchtpatient in ein Bergdorf in Georgien reisen, das seit Ende des 19. Jahrhunderts auch bei anderen Patienten sehr beliebt ist: Menschen mit chronischen Erkrankungen der Atemwege, verschiedenen Arten von Tuberkulose, sekundärer Anämie und Neurasthenie. Klar, krank sind solche exotischen Freeride-Reisen in den weiten Osten irgendwie immer, aber im sogenannten Kleinen Kaukasus in der Region Gurien schien es sogar für mich eine Therapie zu geben. Dafür würde das spezielle Klima im Bergdörfchen Bakhmaro schon sorgen. Denn die kristallklare Gebirgsluft und die feuchtwarmen Luftmassen vom nur 60 Kilometer entfernt gelegenen Schwarzen Meer vermischen sich dort auf einzigartige Weise. 73 Prozent relative Luftfeuchtigkeit im Jahresdurchschnitt lassen nicht nur trockenen Tuberkulose-Husten geschmeidiger ausfallen, sondern auch jeden Powder-Puls höher schlagen. Spätestens nach dieser Erstinfo bei Wikipedia, wo auch zu lesen steht, dass die marode Passstraße jeden Kühler zum Kochen bringt und der fast 2.000 Meter hoch gelegene Kurort eine Jahreshälfte lang aufgrund von Schneefällen nicht zugänglich ist, dämmert dem Freeride-Patienten in mir, dass hier auch für mich Heilung zu holen ist – in Form von Schneefall satt.
Aber wie bin ich überhaupt auf das höchstgelegene Dorf Georgiens in der total abgeschiedenen Bergregion Guriens aufmerksam geworden? In der für mich relevanten Winterphase von November bis April ist das Dorf ja mangels Schneepflügen und schweren Räumgeräten sowie durch die Steigungen und Serpentinen der bis auf 2.050 Meter hinaufführenden 30 Kilometer langen Passstraße gar nicht erreichbar. Wer kommt auf die verrückte Idee, dort oben überwintern zu wollen? In einer Infrastruktur, die fast ausschließlich aus zugigen unbeheizten Holzhütten besteht, mit Plumpsklo-Toiletten im Vorgarten und einer Wasserversorgung, die sich aus einem Gartenschlauch-Gewirr mit Zugang zu nahegelegenen Quellen speist? Wie soll man sich dort oben bei Eiseskälte mit Wärme, Energie und Nahrungsmitteln versorgen? Nicht nur das Smartphone will ja betankt werden, damit man zur Not Kontakt mit der Außenwelt herstellen kann, sondern auch die alltäglichen Mahlzeiten und das Trocknen nasser Merino-Schlüpfer muss gesichert sein. Und zu guter Letzt – die Gretchenfrage: Wie will man in dem Terrain überhaupt Skifahren? Jenes ist freeride-technisch unbekannt, die umliegenden Gipfel lassen sich nur durch knackige Aufstiege erreichen und die fett verschneiten Bergflanken sind noch jungfräulicher als Johanna von Orléans unter ihrer Rüstung. Welcher Georgier sollte jemals – und vor allem wie – zur Winterzeit auf Ski in diese Höhen und dieses abgeschiedene Gelände vorgedrungen sein?
„All das Grübeln half nichts.“
Die Fragen die ich mir stellte, hatte jemand anders schon längst geklärt. Alles begann mit einer E-Mail, die mich im Herbst 2016 erreichte. Auf der info-Adresse von WhiteHearts, wo neben einigen ernstgemeinten Freeride-Anfragen sonst nur Werbemails aus der Zielgruppe „Rentner“ für Viagra, Cialis oder Levitra reinflattern, man mich mit Spezialpflastern von Hühneraugen-Schmerzen befreien möchte oder mit Online-24-Stunden-Krediten ködern will, weil auf meinen Konten vermutlich Ebbe herrscht. Aber neben Erektionsstörungen, entzündeten Zehen und schnellem Geld hatte sich da auch etwas mit dem Titel „Crowdfunding“ und „Catskiing Georgien“ in meinen Spam-Ordner verirrt:
Hallo,
ich habe in Georgien vor, einen exklusiven Freeride-Spot für Powder-Enthusiasten zu entwickeln. Im schneereichen Bakhmaro habe ich eine Location für eine Testsaison mit einer Snow-Cat gefunden. Jetzt suche ich Partner die mitfahren wollen. Beteiligen kann man sich finanziell am Crowdfunding oder man bucht einen Gutschein für eine Reise. Wir brauchen mindestens 50 Freerider über den gesamten nächsten Winter, um laufende Kosten zu decken. Ihr könntet natürlich auch einen WhiteHearts-Trip mit bis zu zehn Leuten machen. Zu viele Freerider bedeuten zu viele Spuren. Das wird auf jeden Fall ein Abenteuer …
Ich freu mich über jede Art von Feedback.
Beste Grüße!
Ingo
„Ich mache den Abflug von Dortmund-Holzwickede.“
Vermutlich wird das die einzige Werbemail bleiben, die jemals Erfolg bei mir hatte. Am 15. Januar 2017 stehe ich tatsächlich in meiner Reise-Jogginghose am Airport Dortmund-Holzwickede. Zusammen mit fetten Powderplanken, umfangreicher Foto- und Filmausrüstung sowie meinem langjährigen WhiteHearts- und Freeride-Buddy Akki Bruchhausen und dem spontan akquirierten Drohnenfilmer Walter Schmid aus der Schweiz. Klar, der winzige Ruhrgebiets-Lokalflughafen hat bei mir Kultstatus, weil hier Szenen meines Lieblingsfilms „Bang Boom Bang“ gedreht wurden, aber ich hätte mir wirklich nie träumen lassen, dass ich von Dortmund aus mal den Abflug in den Schnee machen würde.
Am einzig geöffneten Check-in-Counter der ungarischen Airline WizzAir sind wir die einzigen Westeuropäer, die Richtung Georgien abheben – und auch die einzigen, die Ski-Bags als Sondergepäck aufgeben. Die restlichen etwa 150 Mitflieger sind nach dem Zwiebelprinzip verpackte Kaukasier, die alles, was sie an Kleidung dabei haben, am Körper tragen und statt Koffern lieber fett in Folie gehüllte Haushaltsgeräte wie Küchenmaschinen, Mixer oder Mikrowellen als Gepäckstück aufgeben. Während der angenehmen viereinhalb Flugstunden kommt mir in den Sinn, warum unser Trio sozusagen eine Vorhut ist. Mit dieser Erkundungstour soll abgeklärt werden, ob man „normalen“ Reisegästen so ein kaukasisches Powder-Abenteuer überhaupt zumuten kann. Denn im Herbst war es mir über unsere WhiteHearts-Netzwerke relativ schnell gelungen eine zehnköpfige Gruppe an Freeride-Enthusiasten zusammenzubekommen, die mitfahren wollten auf eine Pionier-Reise vom 12. bis 19. Februar 2017. Aber dann kamen mir erste Zweifel. Der Winter hatte in Georgien schon Anfang Dezember mit voller Wucht zugeschlagen. Eisige Temperaturen und ein einwöchiger Schneesturm mit gewaltigen Niederschlagsmengen schnitten ein hochgelegenes Dorf wie Bakhmaro und den Kleinen Kaukasus noch extremer von der Außenwelt ab als es in normalen Wintern schon der Fall ist. Ich stellte mir unter diesen Voraussetzungen eine zugige unbeheizte Holzhütte vor, spartanisches Essen, Sitzungen auf einem eisigen Außenklo mit kaputter Darmflora und eingefrorener Spülung, kein Warmwasser, keine Duschen, kein Strom, keine Telefonverbindung, keine funktionierende Rettungskette und womöglich ein altersschwaches Kettenfahrzeug sowjetischer Bauart, das Catskiing-Touren ohnehin nicht lange durchhalten würde.
Unsanft werde ich aus meinen Gedanken gerissen und in den Anschnallgurt gedrückt als der Airbus A320 Fahrwerk und Landeklappen ausfährt und am Zielflughafen Kutaissi einschwebt. Durch die dreistündige Zeitverschiebung ist es inzwischen 01.00 Uhr und tiefste Nacht. In knackiger Kälte wanke ich zusammen mit meinen beiden Begleitern über eine Gangway von Bord und registriere keine weiteren Flugzeuge, aber glitzernde Schneefelder hinter der Landebahn. An der Zollkontrolle bekomme ich einen Stempel in den Pass und dann mit den Worten „Frohes Neues Jahr“ eine Flasche Rotwein in die Hand gedrückt. „Alkohol zur Begrüßung – was für ein großartiges Reiseland“, denke ich mir noch, aber da erblicke ich auch schon Ingo mit einem betagten Allrad-Geländewagen vor dem Terminal. Bisher kenne ich ihn ja nur virtuell und durch unseren E-Mail-Kontakt.
„Wie befährt man eine metertief verschneite Passstraße?“
Die übergewichtigen Ski-Bags werden auf den Dachgepäckträger gewuchtet und mit großer Kunst verzurrt. In den Innenraum des Nissan quetschen wir zuerst unsere Taschen und dann uns selbst. Ingo wirkt sofort sympathisch und gut organisiert – vor allem als er vorschlägt einen Stopp an einem georgischen 24-Stunden-Kiosk zu machen, um uns für die etwa zweistündige und 90 Kilometer lange Fahrt an den Fuß der Berge mit Flaschenbier und georgischer Käse-Calzone namens Chatschapuri einzudecken. Auf den unbeleuchteten Hauptstraßen Georgiens sehe ich in der allumfassenden Dunkelheit nicht viel. Ich spüre nur irgendwann die zunehmende Kurven-, Schlagloch- und Spurrillenquote sowie den Zugewinn an Höhenmetern. Dann heißt es „Umsteigen“. Übermüdet trete ich in Kälte, Gebirgsluft und knirschenden Schnee. Vor mir röhrt das Dieseltriebwerk eines knallroten Pistenbullys. Neben der Straße liegen einige hinter Schneewänden versunkene Bauernhäuser. Wege dorthin sind mühevoll aus dem Schnee geschaufelt. Auf der sich vor mir windenden Gebirgsstraße ist nichts mehr geschaufelt oder geräumt. Ich kann das Asphaltband unter der dicken Schneeauflage nur ahnen. Die Chance auf ein Weiterkommen gibt es hier nur per Motorschlitten oder mit einem schweren Kettenfahrzeug.
By continuing to use the site, you agree to the use of cookies. more information
Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.